Da sitzt mein knuffiges Baby in der Kinderkardiologie mit EKG-Elektroden auf der Brust und soll sich der Ablenkung halber einen Disneyfilm anschauen. Ist Euch schon mal aufgefallen, dass es in Kinderfilmen nur so von Waisenkindern wimmelt?
Wieder fragt mich eine Praxisangestellte, welche Beschwerden meine Kinder haben und warum sie heute einen großen kardiologischen Check-up bekommen sollen. Wieder sage ich, dass der Papa der beiden kürzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt verstorben ist und ich sichergehen möchte, dass es keine genetische Komponente dazu gibt. Eine Beileidsbekundung bekommen wir nicht. Stattdessen werde ich eher behandelt wie eine hypochondrische Helikoptermutter. Aber das ist mir alles egal, solange das Ergebnis der Untersuchung ein Unauffälliges ist.
Seitdem mir das Leben gezeigt hat, dass Menschen offenbar jederzeit einfach sterben können, habe ich eine sehr ambivalente Schicksalsgläubigkeit entwickelt. Die Vernunft in mir sagt, wie unrealistisch es ist, dass in einer Familie innerhalb kürzester Zeit mehrere Menschen hintereinander sterben. Andererseits habe ich so wenig Vertrauen in das Universum, dass es mir sehr naheliegend erscheint, dass nach dem Papa jetzt bald die Kinder oder ich die nächsten sind. Ich bilde mir ein, dass ich alles, was irgendwie untersuchbar ist, abchecken lassen muss, um sicherzugehen, dass wir gesund sind. Andererseits weiß ich, wie viele Todesursachen es gibt, die nichts damit zu tun haben, ob man gesund ist oder nicht. In meinem Gehirn bilden sich schwerlösbare Knoten.
Als ich wenige Tage später selbst in der kardiologischen Praxis vorstellig werde, erfahre ich unverhoffte Empathie. Nachdem ich der Ärztin sage, warum ich da bin und dass ich "eigentlich" keine Beschwerden habe, reagiert sie sehr ernst und mitfühlend: "ich kann total verstehen, dass Sie jetzt Angst haben, auch einen Herzinfarkt zu bekommen. Wenn so etwas Fürchterliches passiert, verliert man ja jede Zuversicht." Sie verspricht mir, dass sie sich mein Herz ganz genau anschauen wird. Tatsächlich nimmt sie sich unheimlich viel Zeit und erklärt mir alles ganz genau. Sie schafft es, dass ich die Praxis mit einem einigermaßen erleichterten Gefühl verlassen kann.
Eines Morgens sagt meine 5-jährige Tochter in beiläufigem und gleichzeitig freudigem Tonfall: "Ich habe für Papas Seele eine Bude gebaut!" Ich bin verblüfft. "Seine Seele ist ja öfter hier in der Wohnung unterwegs und da dachte ich, sie braucht einen Platz, wo sie ihre Ruhe hat. In der Bude kann sie es sich gemütlich machen." Ich staune. "Jetzt in diesem Moment zum Beispiel sitzt Papas Seele da, liest Nachrichten auf dem Tablet und trinkt Latte Macchiato." Sie lächelt. "Typisch Papa!".
Mit Tränen in den Augen beobachte ich meine Tochter, wie sie ihr Müsli isst. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie stolz ich auf meine Kinder bin.
Es war schwierig für mich, wenn in den ersten Tagen der Trauer Menschen zu mir gesagt haben, dass wir lernen werden, den Tod in unser Leben zu integrieren. Für mich klang das, als sollte ich akzeptieren, dass er tot ist. Als sollte ich das okay finden und damit dann leben lernen. Es klang auch so einfach dahingesagt. Noch absurder war der Ausblick, meine Trauer würde eines Tages in Dankbarkeit umschlagen. Auch das wollte ich nicht. Ich wollte nichts integrieren und für nichts dankbar sein, denn alles, was ich wollte war ja den lebendigen Menschen zurück.
An dem Morgen mit der Bude für Papas Seele spüre ich erstmals, was es bedeuten könnte, den Tod zu integrieren. Und zwar, ohne ihn okay zu finden oder über alle Maßen dankbar zu sein. Ich verstehe, dass ich den Tod nach wie vor schrecklich finden und ihn gleichzeitig Teil unseres Alltags werden lassen kann. Er ist ja sowieso ständig anwesend. Dann können wir vielleicht auch eine Art Willkommenskultur für ihn schaffen. Und wenn es in Form einer Bude ist, fühlt sich das eigentlich ganz gut an. Ich danke meiner Tochter für diesen grandiosen Einfall. Aber eine Frage habe ich noch: "Was macht Papas Seele denn eigentlich, wenn sie nicht hier in der Wohnung ist?" Meine Tochter hat auch darauf eine Antwort parat: „Dann schwirrt sie im Universum herum und schaut sich dort ein bisschen um.“