Wir sind hier und Du bist tot

 

Ich kneife meine Augen zusammen um meine Sicht unscharf zu stellen. Der Mann, der von Weitem auf mich zuläuft, sieht meinem verstorbenen Freund nun so ähnlich, dass ich mich für eine Sekunde in das warme Gefühl fallen lassen kann, alles sei wie früher und gleich würden wir uns gegenüberstehen als sei nichts gewesen. Als der fremde Mann näherkommt, hilft auch das Augenzusammenkneifen nichts mehr. Wenn ich ehrlich bin, war schon die Gangart nicht zum Verwechseln gewesen.

 

Unsere Haustür wird aktuell geschliffen und neu gestrichen, so hat es die Hausgemeinschaft beschlossen. Mein erster Gedanke, als ich die abgeschliffene Tür gesehen habe, war: jetzt verschwinden auch die letzten Fingerabdrücke an unserer Tür, die er dort in all den Jahren hinterlassen hat. Seit mein Freund gestorben ist, kommt mir das Leben auf Erden häufig sehr seltsam vor. Eigentlich frage ich mich tagtäglich, was wir hier eigentlich machen, wir Menschen. Ich empfinde es als unsagbare Ungerechtigkeit, dass mein Freund den Weg ins Jenseits völlig unabgesprochen und ohne uns gegangen ist und uns damit vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Dass er so, mir nichts dir nichts, gestorben ist und uns hier ohne ihn zurückgelassen hat. In diesem trivialen weltlichen Leben. Ich bin mir einerseits vollkommen sicher, dass er nicht sterben wollte und von seinem Tod völlig überrumpelt wurde. Aber wie sicher kann ich mir sein, was in ihm vorging? Was weiß ich denn, wie sich sterben anfühlt? Manchmal tröste ich mich mit der Vorstellung, ihn eines Tages auf der anderen Seite wieder zu treffen und ihm dann endlich all meine Fragen stellen zu können. Hoffentlich bin ich dann nicht mehr wütend auf ihn. In meinen Träumen schreie ich ihn öfter an. Dafür, dass er jetzt für immer tot ist und seine Kinder nicht mehr begleiten kann. Was er sich bitte dabei gedacht hat. Dass ich jetzt alles, einfach alles alleine machen muss. Er schreit nie zurück und schaut mich jedes Mal einfach schweigend an. Das macht mich erst recht rasend. Und im nächsten Moment wache ich weinend auf, weil ich es auch für ihn so entsetzlich traurig finde, dass er von uns getrennt ist. In seinem blöden Jenseits. Dann gibt es auch wieder Momente, und die gibt es oft, in denen ich mich ganz selbstverständlich mit meinem Freund in einem inneren Dialog austausche. Wenn ich Entscheidungen treffen muss, dann höre ich seine Stimme, die seine Sicht der Dinge schildert. In Stresssituationen höre ich seinen lustigen, sarkastischen Kommentar. Oder seine sanfte Stimme, wie er sagt, dass ich das gut mache mit den Kindern.

 

"Wo ist mein Papa?" überrumpelt mich meine kleine Tochter eines Morgens im Badezimmer. Sie fragt völlig unbekümmert. Klar, das Kind ist inzwischen zwei Jahre alt, es ist nicht nur der Sprache inzwischen erstaunlich mächtig, es hat natürlich auch schon Wind vom Konzept "Mutter, Vater, Kind" bekommen. Ich knie mich zu ihr hinunter und antworte mit möglichst fester Stimme: "Dein Papa ist nicht hier, weil er leider gestorben ist." Jetzt nickt sie eifrig und ruft "Ach jaaaa!", als hätte ich sie an etwas ganz Alltägliches erinnert. Offenbar ist sie mit der Information erst einmal zufrieden und auch ich kann die Erkenntnis sacken lassen, dass ich nun zwei Kinder habe, die mich von jetzt auf gleich mit unserer Trauersituation konfrontieren. Meine große Tochter sagte neulich zu mir, dass sie nicht mit ihrer kleinen Schwester tauschen wollen würde, weil sie es so viel schlimmer finde, einen Papa gar nicht zu kennen, statt ihn wenigstens ein paar Jahre gehabt zu haben. Sie empfinde es als ungerecht, dass alle anderen Erinnerungen an ihren Papa haben und über ihn reden können, während ihn die Kleine nur von Fotos kennt. Auch mache sie sich Gedanken darüber, ob man jemanden vermissen kann, den man nicht wirklich kennt. Auf alle Fälle finde sie es seltsam, dass es immer wieder Leute gibt, die sagen, dass es für das Baby ja nicht so schlimm war, weil es ja noch so klein war.

 

 

Als sich der Tage dem Ende neigt und wir alle zusammen im Bett liegen, sagt meine kleine Tochter in die Stille hinein: "Mein Papa ist nicht hier, er ist leider gestorben..." Ich halte die Luft an. Da beendet sie den Satz: "Aber ich bin nicht gestorben...ich bin hier."