Leere Eddings, ein eingefrorener Papa und ein fiebriges Ende

 

Der Raum, in dem der Sargdeckel bereitsteht, ist kalt und nicht besonders stimmungsvoll. Später erfahre ich, dass hier meistens die Totenfürsorgen stattfinden, daher wohl auch die eher klinische Atmosphäre. Auf einem kleinen Tisch liegen bunte Eddings bereit. Zwei von uns haben selbstgebackenes Gebäck mitgebracht. Ich glaube, uns allen war klar, dass es niemand von uns anrühren wird in der nächsten Stunde. Es braucht einige Anläufe, bis meine Tochter und ich uns trauen, den ersten Strich auf das helle Holz zu setzen. Ich komme nicht gegen den innerlichen Druck an, dass wir das hier unbedingt richtig gut machen müssen. Denn wir haben ja nur den einen Sarg und die eine Chance. Was, wenn unser Gemaltes total hässlich aussieht? Wenn ich mich bei den bedeutungsvollen Sätzen, die ich geplant hatte, verschreibe? Erst einmal kommt es dazu gar nicht, weil die Eddings bis auf einen alle ausgetrocknet zu sein scheinen. Eine leichte Panik breitet sich in mir aus. Die Bestatterin entschuldigt sich dafür, dass sie die Stifte nicht vorher ausprobiert hat. Welch Glück, dass ich im letzten Moment noch die Fingerfarben aus der heimischen Bastelschublade eingesteckt habe. Meine Tochter fängt jetzt endlich an und pinselt dicke Regenbögen auf das Holz. Alle starten auf ihre kleinen Finger und auf das, was da nun in doch recht flotter Geschwindigkeit auf dem Sarg erscheint. Die Anspannung der anderen sich im Raum befindlichen Personen löst sich langsam. Nun trauen sich auch andere Zugehörige näher an den Sarg heran. Einige beginnen zu malen. Babys Hand wird grün angepinselt und dann die kleine Handfläche auf den Sargdeckel gedrückt. Neben den Handabdruck schreibe ich "Auch, wenn wir nur wenig Zeit miteinander hatten, werden wir für immer miteinander verbunden bleiben". Über den größten Regenbogen schreiben wir "Am Ende des Regenbogens sehen wir uns wieder". So langsam merke ich, wie sich Erleichterung in mir auftut, weil alles geklappt hat. Wir haben den ersten Teil geschafft. 

 

Nun steht die noch größere Herausforderung an. Ich beuge mich zu meiner Tochter herunter: "Wollen wir jetzt in das Nebenzimmer gehen und Papa nochmal anschauen?" Ich hatte zuvor mit ihr besprochen, dass wir heute die Möglichkeit haben werden, vom toten Papa Abschied zu nehmen. Sie hatte sofort zugestimmt, dass sie ihn nochmal sehen möchte. Ich hingegen war unsicher. Nun aber ist klar, dass wir gemeinsam gehen. Unabgesprochen und völlig selbstverständlich steht die gesamte Gruppe auf und folgt uns leise in den Nebenraum. Meine Tochter geht gleich nah an den offenen Sarg heran. Sie flüstert: "Er sieht ein bisschen komisch aus. Wie eingefroren. Kann ich ihn mal anfassen?" Ich suche den Augenkontakt mit der Bestatterin. Sie nickt aufmunternd. Meine Tochter berührt nun Papas Hände und sein Gesicht. "Wie fühlt es sich an?" flüstere ich. "Ein bisschen kalt und hart". Dann fragt sie mich, warum Papas Fingerspritzen blau sind. "Das ist, weil Papas Körper nicht mehr durchblutet wird" sage ich und gebe damit offenbar ausreichend Antwort. Jetzt legen wir unsere Geschenke in den Sarg. Ein selbstgemaltes Bild, auf dem meine Tochter selbst zu sehen ist, wie sie ihre Arme weit ausbreitet sowie ein Familienfoto mit einem kleinen Brief von mir. Die anderen Zugehörigen legen nun ebenfalls ihre Gaben hinzu und verabschieden sich mit leisen Worten. "Er ist schon nicht mehr da" höre ich seinen besten Freund beim Blick in den Sarg sagen.

 

Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen, als wir diesen Ort verlassen und ins Sonnenlicht treten. Tatsächlich fühlen wir uns jetzt danach, uns in einem Restaurant aufzuwärmen. Als wir dort alle sitzen – wir, die Lieblingsmenschen meines verstorbenen Freundes - bin ich stolz auf uns und dankbar, dass wir diesen liebevollen Zusammenhalt haben. Mein zufriedenes Baby wandert von Arm zu Arm, aber meine große Tochter sieht sehr blass aus. Auf dem Nachhauseweg sagt sie, dass sie sich krank fühlt und in der Nacht bekommt sie Fieber. Am nächsten Tag sagt sie zu mir: "Bis gestern hatte ich nur gehört, dass Papa tot ist. Aber jetzt weiß ich es auch."