"Heißen wir jetzt eigentlich Familie Trauerkloß?" fragt mich meine fünfjährige Tochter beim Frühstück. Ich weiß sofort, worauf sie anspielt. Noch vor wenigen Wochen hatten wir uns selbst "Familie Glückspilz" getauft. Ich muss schlucken. Besonders Papa hatte in letzter Zeit häufig erwähnt, wie glücklich er mit uns ist. Wir hatten uns als Familie Glückspilz fast ein bisschen erhaben gefühlt mit unserem schönen Leben. Dann war Papa gestorben. Von jetzt auf gleich, zwischen Kita-Elternabend und dem ersten langen Spaziergang mit Baby in der Trage.
Und nun sitzen meine Kinder und ich am Frühstückstisch und überlegen, ob wir nicht doch noch winzigkleine Glückspilze sind. Wir sammeln Beweise für alles Glück, das mit Papas Tod nicht verschwunden ist. Zum Beispiel, dass wir uns noch haben, auch die Omas und Opa, und alle unsere Freund:innen. Dass wir unsere schöne Wohnung noch haben. Dass es ein Glück ist, dass kurz vor Papas Tod noch das kleine Baby auf die Welt gekommen ist. Besonders letzteres wird aktuell häufig, als "ein Geschenk, das er noch hinterlassen hat" bezeichnet. Dabei wäre ein Geschenk ja auch noch ein Geschenk, wenn der Schenkende nicht gleich nach Übergabe aus dem Leben geschieden wäre. Und wie fühlt es sich eigentlich an, einen Säugling geschenkt zu bekommen, wenn bereits im Wochenbett der andere Elternteil stirbt? Fragen, die niemand stellt.
Meine große Tochter sagt „Papa ist jetzt da, wo meine kleine Schwester hergekommen ist“. Ich stelle mir vor, wie Papa und Baby einen Deal miteinander haben und sich an dem Tor zwischen unserer Welt und dem Universum abklatschen und viel Glück wünschen. Manchmal bringen mich solche Fantasien zum Lächeln, oft aber auch zeitgleich zum Verzweifeln. Tot ist tot, aber wir sind noch hier! Wer hat uns gefragt? Das Leben fühlt sich seither unfassbar anstrengend an.
Nach den ersten paar Wochen in Schockstarre scheint für den Rest der Welt das normale Leben weiter zu gehen. Für uns nicht. Aktuell findet man uns öfter auf dem Friedhof als auf dem Spielplatz. Gleichzeitig möchte ich meine Kinder nicht mit dem Tod überfrachten. Ich versuche einen Spagat zwischen unbeschwertem Alltag und gesunder Trauerarbeit zu etablieren. Das Problem dabei ist hauptsächlich, dass ich keine Ahnung habe, wie das geht. Ständig habe ich den Impuls, mit dem Papa meiner Kinder über diese Ausnahmesituation zu sprechen. Dann fällt mir wieder ein, dass er tot ist.
Meine Tochter erzählt mir, sie könne mit ihrem Papa trotzdem noch sprechen. Manchmal frage sie ihn etwas und in ihrem Kopf höre sie dann genau seine Stimme, wie er ihr eine Antwort gibt. „Das ist, weil du dich so gut an ihn erinnern kannst, und dir genau vorstellen kannst, was er dir antworten würde.“ Meine Nüchternheit beeindruckt sie nicht: „Ist doch egal, was es ist! Hauptsache, ich kann mit ihm sprechen!“
Am nächsten Tag macht sie den Vorschlag, dass wir uns vorübergehend Familie Glückskloß oder Trauerpilz nennen sollten. Ich bewundere ihre Originalität und ihren Pragmatismus angesichts der entsetzlichen Situation. Ja, denke ich mir, welch Glück, dass die Kinder da sind, mit ihrer wunderbaren Art. Doch im Innern meines Körpers fühle ich weiterhin diesen übermächtigen Kloß, der mir die Luft zum Atmen nimmt.