Kleine Trostpflaster aus dem Universum

 

Ich wünschte, dass das alles nie passiert wäre. Und gleichzeitig schätze ich den Menschen, der ich heute bin, mehr als den, der ich vor dem Tod unseres Lieblingsmenschen war. Gedanken, die sich schwer zusammenbringen lassen.

Der Tod hat sehr viel mit mir gemacht. Er hat mich altern lassen, um mehr als zwei Jahre. Er hat mich unglaublich viel fühlen lassen. Er hat mir sehr viel Vertrauen ins Leben genommen. Er hat mich gezwungen im Jetzt zu leben. Er hat meinen Blick auf das gelenkt, was wirklich wichtig ist. Er hat mich achtsam werden lassen. Er hat mich mutige und weise Entscheidungen treffen lassen. Er hat mir Demut beigebracht. Er hat mir gezeigt, dass ich wahnsinnig viel aushalten kann. "Wer ist der stärkste Mensch, den Du kennst, Mama?" fragte mich unlängst meine Tochter. Meine Antwort: "Das bin ich selbst."

 

Der Tod hat unser ganzes Leben umgekrempelt und Manches hat sich sogar zum Positiven entwickelt. Ich spüre ein schlechtes Gewissen, wenn ich das sage. Aber ich stelle mir vor, dass alles Gute, was uns seitdem passiert, kleine Trostpflaster aus dem Universum sind.

 

Viele Trauernde, die ich kennenlerne, tragen eine Weisheit mit sich. Einige haben eine richtige Aura, die sie umgibt. Ich interessiere mich sehr für Menschen, die den Tod erlebt haben. Oft inspirieren sie mich. Es gibt selten Berührungsängste, wenige Floskeln und zumeist echte Empathie. Ich bin fest überzeugt davon, dass das Erleben einer solchen Grenzerfahrung unseren Horizont auf eine bestimmte Weise erweitert. Es ist immer noch ungewohnt für mich, mir selbst mit positiver Gelassenheit zu begegnen. Und alles wohlwollend anzunehmen, was ich in mir und mit mir trage. Ich habe inzwischen eine sehr klare Sicht auf das, was mir guttut und was ich lieber von mir fernhalten möchte. Ich hadere kaum noch, nehme die Dinge, wie sie sind und versuche damit zurecht zu kommen. Meine Aufgabe, so scheint es mir, ist, meinen Kindern und mir das bestmögliche Leben zu bereiten. Ohne die ständige Frage im Hinterkopf "wie könnte es noch anders oder gar besser sein?". Ich rege mich nicht über Kleinigkeiten auf, ich haushalte mit meiner Energie. Ich würde mich in meinem Beruf nicht mehr derart verausgaben, wie ich es früher getan habe. Es wäre es mir einfach nicht mehr wert. Ich bin mir sicher, dass diese neue Lebenseinstellung nur schwierig ohne diese schwere Verlusterfahrung möglich gewesen wäre. Sie begann ganz automatisch mit dem Moment, in dem unser Leben auf das Elementarste herunterreduziert wurde.

 

Der Tod ist wie eine Zäsur, wie das Drücken einer Reset-Taste. Es ist, als stehst du ganz unten vor einem riesengroßen Berg. Du weißt, du musst da hoch und du hast keine Ahnung wie du das schaffen sollst. Du bist keine geübte Bergsteigerin, du hast dich nicht annähernd auf diese Aufgabe vorbereitet. Du musst da hoch. Ohne Rüstzeug. Bestimmt gibt es auch die Möglichkeit unten zu bleiben und diesen Weg nicht zu bestreiten. Ich habe einmal gelesen, wenn ein geliebter Mensch stirbt, hast du zwei Optionen: auch sterben oder weiterleben. Und wenn du dich fürs Weiterleben entscheidest, dann musst du über kurz oder lang diesen Berg hoch. Ich erinnere mich sehr intensiv an mein Gefühl in den ersten Stunden nach der Todesnachricht. Es stellte sich zu keinem Zeitpunkt die Frage, OB ich das schaffe. Denn das würde ich. Aber ICH WOLLTE ES NICHT schaffen müssen. Noch nie habe ich etwas so wenig gewollt wie dieses neue Leben, in das ich hier hineingeschmissen wurde.

Die Aussicht, auf alles, was vor mir lag, für uns als Familie, war mehr als niederschmetternd. Der Blick in die Zukunft, die eben noch ganz rosig erschien, war mit einem Mal nur noch grau.

 

Aber wenn ich heute schaue, wie entspannt und weit mein Blick von dem mühsam bestiegenen Berg ist, dann kann es gar nicht anders sein, als dass genau das auch ein Trostpflaster aus dem Universum ist.