"Das ist ja zum Glück keine tiefe Wunde" sagt der Arzt und desinfiziert die Stirn meiner Tochter. "Alles halb so wild." Wenn der wüsste, dass ich gerade kurz vor einem emotionalen Zusammenbruch stehe. Am liebsten würde ich los schreien, dass erst vor wenigen Monaten der Vater meiner Kinder gestorben ist und ich seitdem kein Vertrauen mehr ins Leben habe und es sich für mich gerade so anfühlt als könne meine Tochter vielleicht doch an dieser Platzwunde verbluten.
Allein der Anruf aus der Kita war für mich die pure Re-Traumatisierung. Bis die Erzieherin mit der Sprache herausrückte, dass meine Tochter auf dem Spielplatz mit dem Kopf gegen eine Eisenstange gefallen war, es ihr aber den Umständen entsprechend gut ginge, war ich schon tausend Tode gestorben.
Letztendlich verlassen wir das Krankenhaus an diesem Tag mit viel Schrecken und einer Harry Potter-ähnlichen Narbe. Es ist der erste Sommer mit einer Familie, in der einer fehlt. Das warme Wetter und die Sonne lassen unsere Situation irgendwie noch unwirklicher erscheinen. Ich versuche, den Kindern schöne Ferien zu ermöglichen. Eines sonnigen Tages fahren wir mit der S-Bahn durch Berlin. "Schaut mal Kinder, von hier aus kann man den Friedhof total gut sehen!" rufe ich fast euphorisch. Die Kinder gucken aus dem Fenster und freuen sich ebenfalls: "Ich glaube, da hinten ist Papas Grab!" ruft meine ältere Tochter. Der Mann auf der Sitzbank gegenüber hat einen verständnislosen Gesichtsausdruck. Meine Tochter sagt erklärend zu ihm "Mein Papa hat das schönste Grab auf dem ganzen Friedhof!"
Wir sind inzwischen angekommen im Club, in dem keine*r sein will und der trotzdem ständig neue Mitglieder bekommt. Im Club der Menschen, die jemanden verloren haben, den sie lieben. Dass meine Kinder mit in dem Club sind, tut besonders weh und tut besonders gut, denn wir halten zusammen, egal was noch kommt. Kürzlich hat meine Tochter ein Bild gemalt, auf dem ein Boot zu sehen ist. In dem Boot sitzen wir drei, sie, ich und das Baby, Ich sitze ganz vorne und drehe das Steuerrad. Zwischen mir und den Kindern scheint ein Platz frei zu sein. Das gesamte Boot und seine Umgebung sind mit Herzchen gefüllt. Das Wetter könnte vielfältiger nicht sein. Über uns strahlt die Sonne, daneben fallen Regentropfen vom Himmel und über allem schwebt ein farbenprächtiger Regenbogen. Ich steuere das Boot buchstäblich durch alle Jahreszeiten.
Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, wäre die ehrliche Antwort: "Den Umständen entsprechend bedenklich.“
Aktuell habe ich täglich Kontakt mit Plattensammler*innen aus ganz Berlin. Ich lasse sie die beachtliche Sammlung meines Freundes durchforsten und mir ihre Einschätzung mitteilen. Ich möchte die Sammlung verkaufen, aber nicht an jede*n und schon gar nicht um jeden Preis. Mein Freund hat seine Platten geliebt. Aber in der gesamten Familie findet sich kein zweiter Platten-Nerd. Seine Leidenschaft teilen fremde Menschen mit ihm. Es fühlt sich irgendwie schön an, die Begeisterung im Gesicht der Plattenexpert*innen zu sehen, die ich hereinlasse. Sie nehmen sich viel Zeit und finden anerkennende Worte für die Auswahl, die mein Freund in akribischer Detailverliebtheit getroffen hat. Gerade, weil ihm die Platten so wichtig waren, habe ich das Gefühl, dass ich sie weitergeben muss an Menschen, die sie wertschätzen. Bei uns würden sie einfach im Regal stehen, von Zeit zu Zeit entstaubt werden und nicht die Zuwendung bekommen, die sie verdient haben. Im Gegenteil. Die Platten sind für mich ein Sinnbild von Überforderung und Ballast. Sie füllen den Raum mit ihrer tonlosen Anwesenheit und zeigen mir jedes Mal beim Betreten des Raumes, dass sie einsam und verlassen sind, genau wie wir.
Die Platten loszulassen, löst unheimlich viel in mir aus. Im inneren Dialog mit meinem Freund versuche ich seine Absolution für diese Entscheidung zu erhalten. Seine Platten zu verkaufen, fühlt sich an, als würde ich endgültig davon ausgehen, dass er niemals mehr wiederkommt. Und noch schlimmer: als würde ich es akzeptieren. Mein magisches Denken gibt mir bisweilen sogar das Gefühl: Wenn du die Platten verkaufst, ist er wirklich gestorben. Und das bist Du dann schuld.
Im Traum sitzen mein Freund und ich zusammen im Auto. Wir fahren Richtung Wohnung und ich habe die ganzen Zeit den Gedanken "Gleich kommen wir in sein Zimmer und dann wird er sehen, dass seine Platten weg sind." Mir rutscht das Herz in die Hose. Mein schlechtes Gewissen könnte größer nicht sein. Als ich wachwerde, erleichtert mich kurz die Erkenntnis, dass das nur ein Traum war und ich ihm den Plattenverkauf nicht wirklich beichten muss. Welche Ironie.
Als der Sommer zu Ende geht, sind die Platten fast alle weg. Ein paar Hundert haben wir behalten, weil da unsere gemeinsame Lieblingsmusik drauf ist. Der Raum fühlt sich hell, leer und luftig an. In den riesigen Regalen ist nun unfassbar viel Platz. Fast habe ich es als Affront befunden, dass einer der Plattenhändler mich fragte, ob er die Regale auch kaufen könne.
Derselbe Händler, ein etwas schrulliger und grummeliger Typ, hat übrigens etwas gesagt, was mir sehr geholfen hat: "Also wissen se, wir Plattensammler, wir freuen uns an den Platten solange wir leben. Und wenn wa nich mehr leben, dann sollen se nich oben aufm Dachboden rumliegen. Liegen eh schonmal nich. Dann sollen se zu Leuten kommen, die ebenso nen Spass daran haben wie wir!" Beim Blick in die Regale denke ich nun ganz oft daran, dass tausende Musik-Fans nun eine ganz besondere Platte meines Freundes in ihrem Lieblingsladen entdeckt haben und sich wie verrückt über ihren Fund freuen.