Viele Trauernde sagen, es gibt die Zeitrechnung vor und nach dem Tod des geliebten Menschen. Das Leben "in dem alles noch gut war" und das Leben "danach".
Als der Polizist ausspricht, was wir alle ahnen und was keine*r wahrhaben wollte, möchte ich eine Stopptaste drücken, die es nicht gibt. Der Film läuft einfach weiter. Ich erinnere mich an eine unerträglich kalte Atmosphäre und an betretende Gesichter uniformierter Menschen.
"Wir haben aber doch gerade erst das Baby bekommen" wende ich mich an die junge Polizistin. Ich habe die verzweifelte Hoffnung, sie möge daraufhin das soeben Gesagte widerrufen. Sie macht es nicht. Sie schaut mich an und ich sehe Tränen in ihren Augen.
Mein Kopf arbeitet unendlich langsam. Mein Körper reagiert spontan. Ich sacke zusammen, werde gehalten, lasse das Baby auf dem Arm aber nicht los. Wie lange wir dasitzen, weiß ich nicht. Die Polizist*innen sagen, wir können uns alle Zeit nehmen, die wir brauchen und sie können Seelsorgende schicken. Irgendwann wird uns klar, dass wir auch andere Menschen informieren müssen. Ich rufe meine Mutter an, ich rufe die Freundin an, bei der meine große Tochter heute übernachtet. Wir rufen seinen besten Freund an, der längst auf eine Nachricht wartet. Zusammenhängende Worte finden wir nicht, die Angerufenen verstehen aber sofort. Meine Gedanken kreisen um meine fünfjährige Tochter und wie ich ihr erklären soll, dass Papa sie Montag nicht zur Kita bringen kann, weil er gestorben ist.
Ich erinnere mich, dass wir die Polizeistation irgendwann verlassen, weil es hier nichts mehr für uns zu tun gibt. Wir kamen her, um den Papa meiner Kinder vermisst zu melden und gehen jetzt, weil wir erfahren haben, dass er tot ist. Meine Knie sind weich, mein Brustkorb wie zugeschnürt. Ich habe das Gefühl, nicht atmen zu können. Meine Brust schmerzt. So muss er sich gefühlt haben, kurz vor seinem Tod, denke ich. So fühlt sich bestimmt ein Herzinfarkt an. Kann es sein, dass ich heute ebenfalls sterbe? Es kommt mir nicht abwegig vor. Der Tod aufgrund gebrochenen Herzens, auch bekannt als Broken Heart Syndrom, ist eine lebensgefährliche Herzmuskelerkrankung. Ich habe sie nicht, wie ich inzwischen weiß. Aber was ändert das daran, dass ich mich in diesem Moment fühle, als sei alles, was sich je gut angefühlt hat, für immer vorbei?
Der Nachhauseweg ist kurz und fühlt sich sehr lang an. Mehrmals wird mir die Frage gestellt, ob ich mir sicher sei, jetzt alleine bleiben zu können. Aber ich bin nicht allein, das Baby ist ja bei mir. Der Gang durch den Hausflur fühlt sich unwirklich an. Hier werde ich nun für immer entlang gehen mit dem Wissen, dass er tot ist. Ich betrete die Wohnung. Nie wieder wird er durch diese Tür gehen. Ich setze mich und fühle mich, als sei alles, was ich jetzt tun könnte, komplett sinnlos. Alles, außer das Baby zu versorgen. Plötzlich fällt mir ein, dass wir morgen mit meiner Freundin verabredet sind. Ich rufe sie an und sage, was geschehen ist. Sie sagt mit tonloser Stimme „Ich weiß, dass das kein Witz ist.“ Ich schildere ihr, wie ich ihn den ganzen Tag gesucht habe, wie es mir komisch vorkam, dass er auf meine Whatsapps nicht reagiert hat. Wie ich die Wohnung betreten habe und dieses merkwürdige Gefühl hatte von Verlassenheit. Es tut unglaublich gut, mit ihr zu sprechen. Gleichzeitig wird mit jeder Sekunde, die wir sprechen, die Tatsache realer, dass es wirklich passiert ist. Als ich auflege, bin ich so erschöpft, dass ich mich sofort ins Bett lege. Ich habe bohrende Kopfschmerzen. Die Nacht über betrachte ich das schlafende Baby und warte förmlich darauf, dass es aufwacht und ich ihm zu trinken geben kann. In den Morgenstunden muss ich eingenickt sein. Als ich aufwache, überrollt mich die Realität unmittelbar und mit voller Wucht. Der Schock sitzt mir im wahrsten Sinne in den Knochen. Ich kann mich kaum bewegen. Wieder muss ich mich erinnern zu atmen. Der schreckliche Film, der keiner ist, läuft offenbar weiter.