Erster Todestag

 

Meine große Tochter übernachtet bei einer Freundin, somit sind Baby und ich alleine am Morgen des ersten Todestages ihres Papas. Was sich seltsam anfühlt, ist die Tatsache, dass genau vor einem Jahr kein Mensch ahnen konnte, was sich an diesem Tag Unfassbares ereignen würde. 

 

Immer noch fällt es mir schwer, Zeichen aus dem Jenseits wahrzunehmen. Von vielen Trauernden weiß ich, dass sie auf eine Art mit ihren Verstorbenen in Kontakt stehen und ihre Anwesenheit auch wirklich spüren können. Mir geht es nicht so. Wenn jemand versucht, mich mit den Worten zu trösten "Er ist ja immer noch bei euch!" denke ich: "Nein, eben nicht. Er ist nicht mehr da. Er ist so richtig weg." Und das fühlt sich immer wieder aufs Neue erschreckend und ernüchternd an. Dass er wie vom Erdboden verschluckt ist. Natürlich haben wir das wunderschöne Grab und natürlich haben wir zahllose Erinnerungen, von Fotos über Videos und Whatsapp-Nachrichten über persönliche Gegenstände - aber hey, ER ist einfach nicht mehr da. Er ist losgelaufen und nicht mehr wiedergekommen. Und ganz ehrlich, ich habe auch keinen Bock auf irgendwelche schönen Steine, die ich am Wegesrand finde. Nichts von all dem bringt mir doch die Person zurück, mit der ich unsere Zukunft geplant hatte. 

 

Ich habe nervöse Bauchschmerzen, weil ich nicht weiß, was heute auf mich zukommt. Ein bisschen habe ich mir einen Plan zurechtgelegt. Ich werde heute zum ersten Mal an den Ort gehen, an dem es passiert ist. Bislang habe ich mich nicht dorthin getraut. Mit dem Kinderwagen in der einen Hand, einem Kaffee in der anderen und einem Beutel mit Utensilien für den Gedenkort breche ich an diesem kalten, grauen Morgen auf. Zuerst möchte ich Blumen kaufen, um sie an der besagten Stelle niederzulegen. Ich gehe in den erstbesten Edeka. Dieser ist wie ausgestorben, aber es gibt genau die Blumen, die ich mir vorgestellt hatte. An der Kasse beugt sich die Kassiererin vor und schaut lächelnd auf mein brabbelndes Baby. "Was wäre die Welt ohne Kinder" sagt sie und mir kommen sofort die Tränen. Nun habe ich doch das Gefühl, ein Zeichen bekommen zu haben. Diese Worte, wohlgemeint und mit einem klitzekleinen humoristisch-ironischen Unterton kenne ich nur zu gut. Hier könnte auch der Papa meiner Kinder gesprochen haben. 

 

Ich begebe mich weiter auf meinem Weg zur Laufstrecke. Dort angekommen nehme ich sofort ein paar tiefe Atemzüge. Wie vertraut ist mir das Gefühl der zugeschnürten Kehle und des schweren Atmens. Seit genau einem Jahr atme ich täglich immer wieder bewusst ein und aus, weil ich gewisse Bedenken habe, dass es automatisch geschieht. Manchmal fühle ich mich, als hätte ich minutenlang die Luft angehalten. So auch hier. Umso besser tut die kühle Morgenluft und die Weite an diesem Ort.

 

Vereinzelt joggen Menschen an mir vorbei. Mich beschleicht der Gedanke, dass jetzt einer weniger hier läuft. Und dass das außer mir niemand weiß und niemand merkt. Dass es im Kontext der großen weiten Welt völlig irrelevant ist, ob hier einer mehr oder weniger läuft. Und dass es in unserer kleinen, bisher glücklichen Welt eine riesengroße Katastrophe ist. 

 

Ich komme an der Stelle an, die ich heute zur Gedenkstelle ernenne. Mit unserer Musik in meinem Ohren stelle ich die Blumen auf und versuche mehrfach vergeblich eine Kerze zu entzünden. Irgendwann hält die Flamme und ich setze schnell den Deckel auf das Glas. Auch hinterlasse ich einen kleinen laminierten Brief. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, mich möge eine vorbeilaufende Person ansprechen und den traurigen Moment mit mir teilen. Leider passiert es nicht. Und so gehe ich nach einer Weile weiter und schaue so lange zurück, bis ich die Blumen nicht mehr sehen kann. In einem Jahr werde ich wiederkommen.